Im Rahmen unserer Serie „Osteuropa – 20 Jahre danach” schreibt die Erzählerin Carmen-Francesca Banciu über Rumänien
Rumänien ist das Land der Gegensätze und Widersprüche. Das Land der Höhen und Abgründe. Das Land aller Möglichkeiten und aller Überraschungen. Kaum glaubt man, es entziffert zu haben, schon entgleitet es einem. Der Blick von außen lässt seine Bewohner chaotisch und unberechenbar erscheinen. „Not only am I perfect…. I’m Romanian, too”, lese ich auf dem T-Shirt eines jungen Mannes in Bukarest. Ich muss lachen und weinen. Humor und Selbstironie haben dieses Land noch nie verlassen. Denn es ist ein Fluch, rumänisch zu sein.
Während der Diktatur waren Humor und Selbstironie Rettung und Falle zugleich. Sie wirkten als Ventil, halfen, die Unterdrückung zu relativieren und die Schwere des Überlebens erträglich zu machen, ermöglichten das Weiterleben. Gleichzeitig verharmlosten sie das Böse. Humor und Selbstironie gepaart mit einer fatalistischen Haltung schienen jeden Widerstand sinnlos zu machen. Unmöglich.
Als das rumänische Volk vor zwanzig Jahren aufbegehrte und sich befreite, wunderte es sich über den eigenen Mut. Bis dahin hat man sich getröstet mit dem Spruch „Die Polenta explodiert niemals”. Im Laufe der Nachkriegsjahre war die Diktatur allgegenwärtig geworden. Ihre Übermacht hatte das kollektive Gedächtnis verschleiert und in die Depression getrieben. Man hatte seine jüngste Geschichte, den bitteren Kampf um Freiheit und Würde, den Widerstand der Partisanen in den Bergen Rumäniens vergessen. Er hatte bis in die Sechzigerjahre gedauert und die Securitate über mehr als ein Jahrzehnt herausgefordert. Der bewaffnete Widerstand, wie er heute genannt wird, hatte viele Leben gekostet. Nicht nur die der Partisanen. Auch die der Dorfbewohner, die ihnen geholfen hatten. Die Rache der Securitate und des damaligen Regimes war unerbittlich. In manchen Dörfern wurden ganze Familien ausgelöscht.
Als im Dezember 1989 in Temeswar die Proteste ausbrachen, knüpfte man nicht an frühere Vorbilder und Proteste an. Die Wut eines bis aufs Blut ausgebeuteten und gedemütigten Volkes war spontan entflammt und konnte nicht mehr gebändigt werden. Die Unzufriedenheit war stärker geworden als die Angst. Das Wissen über den Mut der Demonstranten und auch das Wissen über die blutige Antwort des Regimes hatte die Bevölkerung im Land entsetzt. Als in Temeswar die Armee auch Kinder erschoss, provozierte Ceausescu mit seiner Rede im Fernsehen am 20. Dezember über die Hooligans aus Temeswar und verlangte die Unterstützung der Bevölkerung. Am nächsten Tag standen in Bukarest die Einheiten der arbeitenden Klasse und der Paramilitärs in Reih und Glied. Ein Meer von Menschen wurde aus dem ganzen Land zur Massendemonstration in die Hauptstadt befohlen und zu großen Blöcken gruppiert. Ein paar Stunden später, während seiner Rede, wurde Ceausescu ausgebuht. Es war der Anfang seines Endes. Am 22. Dezember ist Ceausescu geflüchtet. Das Volk hatte sich vom kommunistischen Joch befreit.
Seit zwanzig Jahren ist das Geheimnis der Terroristen noch immer nicht gelüftet. Immer wieder behauptet jemand, die Wahrheit zu wissen, in jeder Version will man dem Volk weismachen, es wäre manipuliert und irregeführt worden. Es soll keine Revolution gegeben haben, sondern einen Putsch. Wie es im jüngsten Buch des zum Soldaten degradierten Generals Stanculescu behauptet wird, soll die Befreiung aus der Sowjetunion gekommen sein.
Eine gute Taktik, den Bürgern die Revolution zu stehlen!
Desinformation wurde im Kommunismus von der Securitate als Methode bis zur Perfektion verfeinert. Gerüchte waren das beste Mittel, um Reales und Fiktives als gleichwertig in die Welt zu setzen und Verbrechen des Systems und der Korruption zu vertuschen, Verwirrung zu stiften. Diese Methode hat sich bis heute bewährt.
Trotz der Versuche, die Bevölkerung in die Politikverdrossenheit zu treiben, war die Wahlbeteiligung noch nie so hoch wie im Dezember 2009.
Politik ist das Hauptthema der Gespräche und spaltet das Land. Der Riss zieht sich durch Familien und Freundschaften, auch in den Medien werden die Debatten mit Leidenschaft geführt. Dem Bürger wird suggeriert, er hätte nur die Wahl zwischen zwei Übeln. In den Talkshows gehen die Beschimpfungen oft unter die Gürtellinie. Die Vorwürfe beziehen sich auf reale oder erfundene Enthüllungen von Korruptionsaffären, Sexskandale oder Kollaboration mit dem kommunistischen Regime. Es gibt wenige unabhängige Medien, viele Journalisten erliegen dem finanziellen Druck, opfern die Objektivität zugunsten besserer Bezahlung. Gleichzeitig entwickelt sich die Zivilgesellschaft rasant. Die Bürger lassen sich von Wahlbefragungen nicht mehr beirren. Immer schneller durchschauen sie die Manipulation der Politik. Nicht zuletzt darauf ist der Sieg von Traian Basescu zurückzuführen. Er hat die Wahlen gewonnen, wenngleich nur knapp, weil die Diskreditierungsmanöver der Opposition zu grob gestrickt waren.
Der Wahlkampf ging bis hin zu einem Krieg der Wahlplakate. Manche wirkten wie politische Poster, die den Opportunismus der politischen Allianzen lächerlich machten. So ein dem links-konservativen Bündnis der PSD-PC zugeschriebenes Plakat. Unter dem Motto „gemeinsam siegen” zeigte es ihren Präsidentschaftskandidaten Mircea Geoana im Vordergrund. Um ihn herum andere Politiker der Allianz in lächerlicher Pose. Eine Szene wie aus der Commedia dell’arte.
Es gibt zwei Rumänien, und jedes von ihnen besäße viele Gesichter, wird im Land heute behauptet. Bei der Ankunft mit dem Zug in der Grenzstadt von Arad wird der Reisende von einem frisch renovierten Bahnhof mit moderner Einrichtung und einem bröckelnden Treppengang empfangen. Im Zentrum glänzt die Weihnachtsdekoration. An der Peripherie lauern die Schlaglöcher. Es gibt das ländliche und das urbane Rumänien. Selbst das urbane besteht aus zwei Welten. Neben den modernen, renovierten Zentren gibt es die primitiven Peripherien. Von ihren Wurzeln abgeschnitten, von der Gesellschaft missachtet, leben dort die Außenseiter, die ihr Dorf verlassen haben, ohne jemals in der Großstadt angekommen zu sein. Sie leben in einer Art kulturellem Niemandsland voller Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Armut und Promiskuität, die in den herben Manele ihren musikalischen Ausdruck findet. Zwischen Zentrum und diesen Außenbezirken liegt zeitlich eine jahrhundertealte Kluft, die immer breiter wird.
Ein altes und ein junges Rumänien stehen sich gegenüber. In den letzten Jahren des Kommunismus hatten die Alten das Sagen, die Jungen behandelte man wie potenzielle Verbrecher. Das wurde verstärkt durch die Tradition der rumänischen Gesellschaft, die jugendfeindlich war. Heute hat sich dies vollkommen umkehrt. Die Jungen haben sich befreit von der Diktatur der alten.
Die junge Generation droht die alte in die Ecke zu treiben. Sie ist besser ausgerüstet für das neue Zeitalter und die neue Gesellschaftsordnung. Die jungen Rumänen aus den Städten sind in der Welt gereist, haben im Ausland studiert, beherrschen den Umgang mit der modernen Technik und können es sich leisten, sie zu kaufen. Sie sind flexibel und bereit, aus beruflichen Gründen das Land zu wechseln, sich selbständig zu machen, sie erwarten keine Rettung vom Staat.
Immer stärker entwickelt sich auch das Bewusstsein für die Umwelt. Die junge rumänische Gesellschaft lernt schnell, ist ambitioniert und arbeitsam. Nach dem Motto „wer hätte das gedacht” kommentierte Radio France International im Vorjahr: allen Vorurteilen zum Trotz, ergab eine Statistik aus der EU, dass die Rumänen und Bulgaren am längsten arbeiten.
Vor der Weltwirtschaftskrise entwickelte sich Rumänien in den vergangenen Jahren zu einem neuen Tigerstaat in Osteuropa mit einem alljährlichen Wachstum von sieben Prozent. Aber der Rückgang des Exports droht das Land aus der Balance zu werfen. Da siebzig Prozent des rumänischen Exports von der EU gedeckt wird, bedeutete eine Rezession in Deutschland Rezession in Rumänien, erklären die Co-Autoren Jim Rosapepe, Botschafter der Clinton Regierung in Bukarest, und Sheilah Kast, ehemalige ABC News Korrespondentin aus Osteuropa, Moskau und Tblisi in ihrem Buch „Dracula Is Dead: How Romanians Survived Communism, Ended It, and Emerged Since 1989 as the New Italy”. Sie sprechen von einem beeindruckenden Aufstieg des Landes nach 1989, vergleichbar dem Italiens.
Es gibt vieles, was in Rumänien schief geht und vieles, was sich ändern muss. Es gibt viele wunde Punkte. Korruption ist nur ein Beispiel. Aber es gibt auch beachtenswerte Fortschritte, über die man weniger berichtet. Die Vergangenheitsbewältigung zum Beispiel. Rumänen aus aller Welt debattieren, mehr oder weniger kompetent, über das Thema im Internet. Es gibt auch eine Reihe von Büchern, die sich mit den Verbrechen im Kommunismus auseinandersetzten, über den bewaffneten Widerstand der Partisanen berichten oder über das tragische Schicksal der rumänischen Intelligenzija und der Politiker nach 1947, über Deportation, Revolten und Revolution.
Das Elie-Wiesel-Nationale-Institute zur Untersuchung des Holocaust in Rumänien wurde 2005 gegründet. Es gibt das unermüdliche Engagement der Zeitschrift „22 – Revista Grupului pentru Dialog Social” aus Bukarest zur Entstehung einer zivilen Gesellschaft. Ein ähnlich wichtiger Beitrag ist die Gründung der Stiftung Academia Civica und des Museums für die Opfer des Kommunismus „Memorial Sighet” von dem Schriftstellerpaar Anna Blandiana und Romulus Rusan. Das Museum besitzt eine große Sammlung von Dokumenten und einen eigenen Verlag. Alljährlich finden dort Seminare und eine internationale Sommerschule statt. Am 18. Dezember 2006 hatte der damalige und nun wiedergewählte Präsident Traian Basescu den Kommunismus im Parlament verurteilt. Damit wurde eine juristische Basis geschaffen für weitere Schritte.
Rumänien ist eine Demokratie. Meinungsfreiheit und Reisefreiheit sind garantiert. Seit dem EU Beitritt sind die Tore der meisten Länder auch für die Rumänen offen. Oft ist der Urlaub im Ausland sogar billiger. Man trifft immer öfter auf rumänische Touristen, die sich Sehenswürdigkeiten ansehen oder Shoppingtourismus betreiben. Im Westen dagegen hält man sich fast ausschließlich an das Bild des rumänischen Wirtschaftsflüchtlings und an das eines Landes, das Minderheiten unterdrückt. Aber dieses Bild stimmt nicht mehr. Wem Schulen, Theater, Zeitungen und Verlage in der Sprache der Minderheiten nicht überzeugend genug sind, wird sein Bild spätestens nach den Wahlen im Dezember 2009 korrigieren müssen. Neben Marko Bela, dem Stellvertretenden Regierungschef, gehören drei weitere Minister im rumänischen Kabinett der ungarischen Minderheit an.
Zwanzig Jahre nach der Revolution, sechs Jahre nach Beginn der Nato-Mitgliedschaft und zwei Jahre nach dem EU-Beitritt wäre es an der Zeit, einen differenzierten Blick auf dieses Land zu werfen. Am besten, einfach dahin zu fahren.
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„Ein Fluch, rumänisch zu sein”

Im Rahmen unserer Serie „Osteuropa – 20 Jahre danach” schreibt die Erzählerin Carmen-Francesca Banciu über Rumänien
Rumänien ist das Land der Gegensätze und Widersprüche. Das Land der Höhen und Abgründe. Das Land aller Möglichkeiten und aller Überraschungen. Kaum glaubt man, es entziffert zu haben, schon entgleitet es einem. Der Blick von außen lässt seine Bewohner chaotisch und unberechenbar erscheinen. „Not only am I perfect…. I’m Romanian, too”, lese ich auf dem T-Shirt eines jungen Mannes in Bukarest. Ich muss lachen und weinen. Humor und Selbstironie haben dieses Land noch nie verlassen. Denn es ist ein Fluch, rumänisch zu sein.
Während der Diktatur waren Humor und Selbstironie Rettung und Falle zugleich. Sie wirkten als Ventil, halfen, die Unterdrückung zu relativieren und die Schwere des Überlebens erträglich zu machen, ermöglichten das Weiterleben. Gleichzeitig verharmlosten sie das Böse. Humor und Selbstironie gepaart mit einer fatalistischen Haltung schienen jeden Widerstand sinnlos zu machen. Unmöglich.
Als das rumänische Volk vor zwanzig Jahren aufbegehrte und sich befreite, wunderte es sich über den eigenen Mut. Bis dahin hat man sich getröstet mit dem Spruch „Die Polenta explodiert niemals”. Im Laufe der Nachkriegsjahre war die Diktatur allgegenwärtig geworden. Ihre Übermacht hatte das kollektive Gedächtnis verschleiert und in die Depression getrieben. Man hatte seine jüngste Geschichte, den bitteren Kampf um Freiheit und Würde, den Widerstand der Partisanen in den Bergen Rumäniens vergessen. Er hatte bis in die Sechzigerjahre gedauert und die Securitate über mehr als ein Jahrzehnt herausgefordert. Der bewaffnete Widerstand, wie er heute genannt wird, hatte viele Leben gekostet. Nicht nur die der Partisanen. Auch die der Dorfbewohner, die ihnen geholfen hatten. Die Rache der Securitate und des damaligen Regimes war unerbittlich. In manchen Dörfern wurden ganze Familien ausgelöscht.
Als im Dezember 1989 in Temeswar die Proteste ausbrachen, knüpfte man nicht an frühere Vorbilder und Proteste an. Die Wut eines bis aufs Blut ausgebeuteten und gedemütigten Volkes war spontan entflammt und konnte nicht mehr gebändigt werden. Die Unzufriedenheit war stärker geworden als die Angst. Das Wissen über den Mut der Demonstranten und auch das Wissen über die blutige Antwort des Regimes hatte die Bevölkerung im Land entsetzt. Als in Temeswar die Armee auch Kinder erschoss, provozierte Ceausescu mit seiner Rede im Fernsehen am 20. Dezember über die Hooligans aus Temeswar und verlangte die Unterstützung der Bevölkerung. Am nächsten Tag standen in Bukarest die Einheiten der arbeitenden Klasse und der Paramilitärs in Reih und Glied. Ein Meer von Menschen wurde aus dem ganzen Land zur Massendemonstration in die Hauptstadt befohlen und zu großen Blöcken gruppiert. Ein paar Stunden später, während seiner Rede, wurde Ceausescu ausgebuht. Es war der Anfang seines Endes. Am 22. Dezember ist Ceausescu geflüchtet. Das Volk hatte sich vom kommunistischen Joch befreit.
Seit zwanzig Jahren ist das Geheimnis der Terroristen noch immer nicht gelüftet. Immer wieder behauptet jemand, die Wahrheit zu wissen, in jeder Version will man dem Volk weismachen, es wäre manipuliert und irregeführt worden. Es soll keine Revolution gegeben haben, sondern einen Putsch. Wie es im jüngsten Buch des zum Soldaten degradierten Generals Stanculescu behauptet wird, soll die Befreiung aus der Sowjetunion gekommen sein.
Eine gute Taktik, den Bürgern die Revolution zu stehlen!
Desinformation wurde im Kommunismus von der Securitate als Methode bis zur Perfektion verfeinert. Gerüchte waren das beste Mittel, um Reales und Fiktives als gleichwertig in die Welt zu setzen und Verbrechen des Systems und der Korruption zu vertuschen, Verwirrung zu stiften. Diese Methode hat sich bis heute bewährt.
Trotz der Versuche, die Bevölkerung in die Politikverdrossenheit zu treiben, war die Wahlbeteiligung noch nie so hoch wie im Dezember 2009.
Politik ist das Hauptthema der Gespräche und spaltet das Land. Der Riss zieht sich durch Familien und Freundschaften, auch in den Medien werden die Debatten mit Leidenschaft geführt. Dem Bürger wird suggeriert, er hätte nur die Wahl zwischen zwei Übeln. In den Talkshows gehen die Beschimpfungen oft unter die Gürtellinie. Die Vorwürfe beziehen sich auf reale oder erfundene Enthüllungen von Korruptionsaffären, Sexskandale oder Kollaboration mit dem kommunistischen Regime. Es gibt wenige unabhängige Medien, viele Journalisten erliegen dem finanziellen Druck, opfern die Objektivität zugunsten besserer Bezahlung. Gleichzeitig entwickelt sich die Zivilgesellschaft rasant. Die Bürger lassen sich von Wahlbefragungen nicht mehr beirren. Immer schneller durchschauen sie die Manipulation der Politik. Nicht zuletzt darauf ist der Sieg von Traian Basescu zurückzuführen. Er hat die Wahlen gewonnen, wenngleich nur knapp, weil die Diskreditierungsmanöver der Opposition zu grob gestrickt waren.
Der Wahlkampf ging bis hin zu einem Krieg der Wahlplakate. Manche wirkten wie politische Poster, die den Opportunismus der politischen Allianzen lächerlich machten. So ein dem links-konservativen Bündnis der PSD-PC zugeschriebenes Plakat. Unter dem Motto „gemeinsam siegen” zeigte es ihren Präsidentschaftskandidaten Mircea Geoana im Vordergrund. Um ihn herum andere Politiker der Allianz in lächerlicher Pose. Eine Szene wie aus der Commedia dell’arte.
Es gibt zwei Rumänien, und jedes von ihnen besäße viele Gesichter, wird im Land heute behauptet. Bei der Ankunft mit dem Zug in der Grenzstadt von Arad wird der Reisende von einem frisch renovierten Bahnhof mit moderner Einrichtung und einem bröckelnden Treppengang empfangen. Im Zentrum glänzt die Weihnachtsdekoration. An der Peripherie lauern die Schlaglöcher. Es gibt das ländliche und das urbane Rumänien. Selbst das urbane besteht aus zwei Welten. Neben den modernen, renovierten Zentren gibt es die primitiven Peripherien. Von ihren Wurzeln abgeschnitten, von der Gesellschaft missachtet, leben dort die Außenseiter, die ihr Dorf verlassen haben, ohne jemals in der Großstadt angekommen zu sein. Sie leben in einer Art kulturellem Niemandsland voller Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Armut und Promiskuität, die in den herben Manele ihren musikalischen Ausdruck findet. Zwischen Zentrum und diesen Außenbezirken liegt zeitlich eine jahrhundertealte Kluft, die immer breiter wird.
Ein altes und ein junges Rumänien stehen sich gegenüber. In den letzten Jahren des Kommunismus hatten die Alten das Sagen, die Jungen behandelte man wie potenzielle Verbrecher. Das wurde verstärkt durch die Tradition der rumänischen Gesellschaft, die jugendfeindlich war. Heute hat sich dies vollkommen umkehrt. Die Jungen haben sich befreit von der Diktatur der alten.
Die junge Generation droht die alte in die Ecke zu treiben. Sie ist besser ausgerüstet für das neue Zeitalter und die neue Gesellschaftsordnung. Die jungen Rumänen aus den Städten sind in der Welt gereist, haben im Ausland studiert, beherrschen den Umgang mit der modernen Technik und können es sich leisten, sie zu kaufen. Sie sind flexibel und bereit, aus beruflichen Gründen das Land zu wechseln, sich selbständig zu machen, sie erwarten keine Rettung vom Staat.
Immer stärker entwickelt sich auch das Bewusstsein für die Umwelt. Die junge rumänische Gesellschaft lernt schnell, ist ambitioniert und arbeitsam. Nach dem Motto „wer hätte das gedacht” kommentierte Radio France International im Vorjahr: allen Vorurteilen zum Trotz, ergab eine Statistik aus der EU, dass die Rumänen und Bulgaren am längsten arbeiten.
Vor der Weltwirtschaftskrise entwickelte sich Rumänien in den vergangenen Jahren zu einem neuen Tigerstaat in Osteuropa mit einem alljährlichen Wachstum von sieben Prozent. Aber der Rückgang des Exports droht das Land aus der Balance zu werfen. Da siebzig Prozent des rumänischen Exports von der EU gedeckt wird, bedeutete eine Rezession in Deutschland Rezession in Rumänien, erklären die Co-Autoren Jim Rosapepe, Botschafter der Clinton Regierung in Bukarest, und Sheilah Kast, ehemalige ABC News Korrespondentin aus Osteuropa, Moskau und Tblisi in ihrem Buch „Dracula Is Dead: How Romanians Survived Communism, Ended It, and Emerged Since 1989 as the New Italy”. Sie sprechen von einem beeindruckenden Aufstieg des Landes nach 1989, vergleichbar dem Italiens.
Es gibt vieles, was in Rumänien schief geht und vieles, was sich ändern muss. Es gibt viele wunde Punkte. Korruption ist nur ein Beispiel. Aber es gibt auch beachtenswerte Fortschritte, über die man weniger berichtet. Die Vergangenheitsbewältigung zum Beispiel. Rumänen aus aller Welt debattieren, mehr oder weniger kompetent, über das Thema im Internet. Es gibt auch eine Reihe von Büchern, die sich mit den Verbrechen im Kommunismus auseinandersetzten, über den bewaffneten Widerstand der Partisanen berichten oder über das tragische Schicksal der rumänischen Intelligenzija und der Politiker nach 1947, über Deportation, Revolten und Revolution.
Das Elie-Wiesel-Nationale-Institute zur Untersuchung des Holocaust in Rumänien wurde 2005 gegründet. Es gibt das unermüdliche Engagement der Zeitschrift „22 – Revista Grupului pentru Dialog Social” aus Bukarest zur Entstehung einer zivilen Gesellschaft. Ein ähnlich wichtiger Beitrag ist die Gründung der Stiftung Academia Civica und des Museums für die Opfer des Kommunismus „Memorial Sighet” von dem Schriftstellerpaar Anna Blandiana und Romulus Rusan. Das Museum besitzt eine große Sammlung von Dokumenten und einen eigenen Verlag. Alljährlich finden dort Seminare und eine internationale Sommerschule statt. Am 18. Dezember 2006 hatte der damalige und nun wiedergewählte Präsident Traian Basescu den Kommunismus im Parlament verurteilt. Damit wurde eine juristische Basis geschaffen für weitere Schritte.
Rumänien ist eine Demokratie. Meinungsfreiheit und Reisefreiheit sind garantiert. Seit dem EU Beitritt sind die Tore der meisten Länder auch für die Rumänen offen. Oft ist der Urlaub im Ausland sogar billiger. Man trifft immer öfter auf rumänische Touristen, die sich Sehenswürdigkeiten ansehen oder Shoppingtourismus betreiben. Im Westen dagegen hält man sich fast ausschließlich an das Bild des rumänischen Wirtschaftsflüchtlings und an das eines Landes, das Minderheiten unterdrückt. Aber dieses Bild stimmt nicht mehr. Wem Schulen, Theater, Zeitungen und Verlage in der Sprache der Minderheiten nicht überzeugend genug sind, wird sein Bild spätestens nach den Wahlen im Dezember 2009 korrigieren müssen. Neben Marko Bela, dem Stellvertretenden Regierungschef, gehören drei weitere Minister im rumänischen Kabinett der ungarischen Minderheit an.
Zwanzig Jahre nach der Revolution, sechs Jahre nach Beginn der Nato-Mitgliedschaft und zwei Jahre nach dem EU-Beitritt wäre es an der Zeit, einen differenzierten Blick auf dieses Land zu werfen. Am besten, einfach dahin zu fahren.
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Postat de pe data de 31 ian., 2010 in categoria România în lume. Poti urmari comentariile acestui articol prin RSS 2.0. Acest articol a fost vizualizat de 394 ori.

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